Montag, 13. Februar 2017

Graviationsfeld



Bunte Lichtpunkte tanzen von ihren Augen. Der Magen fährt Achterbahn. Völlig abgehoben driftet Chérie mit dem Punk über die klebrige Tanzfläche. Einmal Wiener Walzer zu französischem Old-School-HipHop. Der Punk hat die Augen weit aufgerissen und starrt an ihr vorbei. 

Die Menschenmasse wiegt vor und zurück, wie eine gigantische Welle. Sie ist unkontrolliert, wie in Trance, schwappt umher, kreist ein und reißt mit. Körper an Körper, betäubt, taumelnd. Chérie und der Punk mittendrin. Partner für einen Augenblick, einen Tanz. Ihre Freunde stehen in einer Ecke, Fluppe zwischen den Lippen, eine Flasche kreist. Eloise tanzt mit dem Berlin-Boy, so haben sie ihn wegen seines Berlin T-Shirts genannt, er schleicht schon eine Weile um die Gruppe rum, dicht an dicht, irgendwie zusammen. „On continuit?“ nuschelt der Punk in Chéries Ohr. Der DJ legt eine neue Vinyl auf, diesmal Rock’n’Roll. Die Masse wiegt sich, Haare fliegen, es wird mitgesungen, gegrölt. Berlin-Boy hat sich eine Neue gesucht, Eloise hängt sich an die langbeinige Freundin von Simon. Chérie nickt nur, verstehen tut sie sowie niemand. Der Punk verzieht grinsend das Gesicht, zieht genussvoll an der Kippe und mustert Chérie erneut von oben bis unten. Ein bisschen unwohl fühlt sie sich schon hier, totally overdressed mit dem kurzen Wollrock und der Bluse. Um sie herum dunkel gekleidete Gestalten, eher alternativ mit langen Haaren und langen Bärten, über ihren Köpfen hängen Plakate wie „Die KPD bleibt“ Oder „Antispezietistische Aktion“, daneben die Regenbogenfahne. Der ganze „Club“ ist eher ein großer Konzertsaal ohne Garderobe oder Einlass, bunt besprühte und beklebte Wände, die Gäste mit ihren Jacken um und Rucksäcken an. Und dazwischen Eloise und Simon, seine Freundin Clémence und im Schlepptau Chérie. Sie hatte sich nach dem dritten Bier und einigen Kurzen in Simons Appartement bequatschen lassen, mitzukommen. Und jetzt ist sie hier. Der Punk ist in der Menge verschwunden, nur sein Iro blitzt auf. Tant pis! Wie von selbst tanzt Chérie weiter, tiefer und tiefer in das Herz der Menschenwelle hinein. Ein wilder Wechsel zwischen schnellem Rock und HipHop. Einige Besucher stehen vor den Wänden aus Boxen. Der Rhythmus massiert die müden Glieder und Herzen. Ihr Kopf dröhnt von der Musik, von dem bitter-süßen Zigarettenrauch, dem Alkohol. Simon und Clémence tanzen wie in Trance, mehr eine Gestalt als zwei. Eloise lehnt rauchend an der Wand und winkt Chérie zu. Eine kleine Französin springt vor ihr hin und her, auf ihre Füße und in ihre Arme, und zieht Chérie weiter nach vorne. Die Französin beherrscht ihren Körper, windet und dreht sich, die lackschwarzen Haare mit den blauen Spitzen fliegen in alle Richtungen, ihre tätowierten Arme bewegen sich schlängelnd durch die Luft. Schweiß rinnt Chérie die Stirn und den Nacken entlang, das T-Shirt klebt an Bauch und Hüften. Irgendjemand entleert seinen Plastikbecher Bier über ihren Rock. Die Französin lacht und wirft den Kopf in den Nacken. Eloise raucht immer noch und diskutiert inzwischen mit einem mittelalten Mann in Strumpfhosen. Es ist nicht wirklich dunkel, immer wieder werden die schweren Luftschutztüren aufgerissen, und ein Schwall eiskalter Nachtluft erfrischt die Tänzer. Jeder für sich alleine, in der eigenen Welt gefangen, und doch zusammen wie ein Schwarm Vögel. Oder eher stumme Fische. Auf der Bank in der Ecke schläft eine junge Frau, in der Ecke macht ein Pärchen rum. Jeder ist für sich. Und doch zusammen. Chérie tanzt weiter, getragen von kleinen elektrischen Impulsen. Ein Gefühl tief aus dem Magen breitet sich aus, wie von alleine erfolgen die Bewegungen. Die Bässe diktieren den Takt. Clémence und Simon sind nach draußen verschwunden. Eloise lehnt an der Bar. Und Chérie tanzt weiter -  gegen die Kopf- und Gliederschmerzen, gegen die Leere, die Kälte im Inneren. Tanzt weiter. Unerwartet legt sich ihr eine warme Hand in den Nacken und ein Franzose schiebt sich neben sie. „J’aime comment tu danses.“ Der Typ von der Bar. Einfaches T-Shirt, Jeans, Lederjacke, Sneakers. Ein Bier in der einen Hand, die andere locker auf Chéries Schulter. Nicht zu nah, nicht zu fern. Sie hat ihn eben schon gesehen, ein wenig beobachtet, um ehrlich zu sein, er gefällt ihr schon irgendwie. Sie lächelt. „Il nous reste quelques minutes avant la fermeture.“ Er lächelt zurück. Dunkle Haare, dunkle Augen. „Il faut en profiter, n’est-ce pas ?“ Er greift nach ihrer Hand.   

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